
NEIN-sagen lernen Teil II
So trägt (D)ein “NEIN” zu innigen Beziehungen bei
Wir sagen aus den unterschiedlichsten Gründen JA trotz innerlichem NEIN, bspw. weil…
Ein solches JA dient meist nur einer kurzweiligen Erfüllung oberflächlicher Bedürfnisse: Für eine kurze Zeit kann es uns danach ganz gut gehen, doch mittel-/langfristig können sich (wieder) unangenehme Gefühle einstellen. In der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg deuten Gefühle darauf hin, ob ein Bedürfnis erfüllt ist oder nicht. Die anschließend aufkommenden unangenehmen Gefühle weisen uns also daraufhin, dass wir unsere tieferliegende, essenziellen Bedürfnisse mit dem JA nicht erfüllt haben.
Bildlich gesprochen: Wir löschen mit einem JA, das nicht von unserem Herzen kommt, nur das Strohfeuer, jedoch nicht den ursächlichen Brandherd.
Ein “JA” zum Schutz
JA-sagen kann eine Strategie zur kurzzeitigen Erfüllung oberflächlicher Bedürfnisse sein, die stellvertretend für eigene oder partner-schaftliche essenzielle Bedürfnisse stehen können. Essenzielle Bedürfnisse wirken dagegen häufig unbewusst, sind schwerer zu erkennen oder zu benennen und bleiben daher oft im Verborgenen. Sie erhalten in Beziehungen nicht die nötige Aufmerksamkeit, bleiben unbefriedigt – und führen so immer wieder zu Konflikten. Denn wir versuchen, sie über oberflächliche Bedürf-nisse zu kompensieren. Während oberflächliche Bedürfnisse flüchtig und situationsabhängig sind, sind essenzielle Bedürfnisse beständiger und eng mit unserer Persönlichkeit verbunden. Sie erfordern Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich aktiv und eigenverantwortlich in Beziehungen einzubringen.
JA-sagen trotz innerlichem NEIN ist damit auch ein Schutzmecha-nismus. Denn um essenzielle Bedürfnisse in einer Beziehung anzusprechen, braucht es Mut und (Selbst-)Vertrauen. Oberflächliche Bedürfnisse hingegen betonen unsere positiven Absichten – auch gegenüber dem anderen – und erscheinen uns “ungefährlicher”, weil wir durch sie weniger von unserem inneren Erleben preisgeben.
Beispiel 1 “Konfliktvermeidung”:
Tim richtet sich in der Tages- und Aktivitätenplanung sehr oft nach seiner Freundin Lisa, obwohl auch er diverse Dinge zu erledigen hat bzw. machen mag (→ mögliche essenzielle Bedürfnisse: Selbst-bestimmung, Individualität, Akzeptanz). Wenn er NEIN sagt, befürchtet er Diskussionen und Ruhe bzw. Harmonie (→ oberflächliche Bedürfnisse) kann er sich dann abschminken. So richtet er sich überwiegend nach ihrer Planung. Das JA zu ihrer Planung vermied zwar die Diskussion (es herrscht kurzweilig Ruhe und Harmonie) und er fühlt sich kurzfristig wohl, jedoch ist die anschließende gemeinsame Zeit irgendwie sehr angespannt: Er ist innerlich genervt und nicht richtig bei der Sache, weil er eigentlich gerne etwas anderes gemacht hätte. Sie ist wiederum genervt von seinem Verhalten, weil seine Ambition und Laune zu Wünschen übrig lassen.
→ Kurzfristig werden durch JA-sagen Bedürfnisse wie Harmonie und Ruhe gestillt, doch Harmonie kann im Miteinander nur langfristig bestehen, wenn essenzielle Bedürfnisse wie Selbstbestimmung oder Individualität in der Beziehung gelebt werden (dürfen). Diese werden durch JA-sagen nicht erfüllt, doch ein Gespräch über diese könnte langfristig zu mehr Harmonie beitragen.
Beispiel 2 “Verlustangst”:
Petra kann ihrer Freundin einfach keine Bitte abschlagen – sie fürchtet (unbewusst), sie sonst als Freundin zu verlieren – und so sagt sie für gewöhnlich JA, wenn ihre Freundin Hilfe benötigt: Beim Umzug, bei der Geburtstagsfeier der Tochter oder als Trösterin bei Liebeskummer. Petra betont gerne, dass sie stolz darauf ist, eine zuverlässige, pflicht-bewusste Freundin zu sein (→ oberflächliche Bedürfnisse: Zuverlässig-keit, Pflichtbewusstsein). Doch ihr Einsatz stresst sie tatsächlich regelmäßig sehr – nicht nur zeitlich, sondern auch persönlich: Ihr kommt die Dankbarkeit und Wertschätzung der Freundin zu kurz und so manche Anfrage von ihr findet sie hin und wieder sogar etwas dreist (→ essenzielle Bedürfnisse: Stabilität, Achtsamkeit, Anerkennung). Da sie ihren Ärger darüber manchmal schwer verstecken kann, sind manche Treffen der Freundinnen emotional etwas angespannt oder unterkühlt – was die Freundin öfters wundert.
Durch JA-sagen werden hier Bedürfnisse bzw. positive Absichten wie Zuverlässigkeit oder Pflichtbewusstsein in den Vordergrund gestellt, wo-durch essenzielle Bedürfnisse nach Stabilität, Anerkennung oder Achtsam-keit in der Freundschaft stellvertretend erfüllt werden wollen – jedoch langfristig nicht erfüllt werden. Ein Gespräch der Freundinnen über Petras essenzielle Bedürfnisse in einer Freundschaft würde stattdessen das gegenseitige Verständnis fördern und die Bindung der Freundinnen langfristig stärken.
Ein “Nein” ermöglicht tiefe Verbindung
Innige, harmonische Beziehungen basieren unter anderem auf gegenseitigem Verständnis – und dieses wird durch einen ehrlichen und wertfreien (!) Austausch über Bedürfnisse und Gefühle gefördert. Verständnis ist in Beziehungen wichtig, um sich gegenseitig besser einschätzen zu können. Das schafft Sicherheit, Stabilität und stärkt das Vertrauen – also zentrale psychologische Grundbedürfnisse.
Mit einem ehrlichen NEIN machst du deinem Gegenüber deine Bedürfnisse transparent und gibst ihr oder ihm die Möglichkeit, dich zu verstehen und authentisch zu reagieren.
Bedürfnisse brauchen Raum zum SEIN – das ermöglicht echte Nähe und tiefe Verbindung. JA-sagen aus Strategie oder zum Selbstschutz beeinträchtigt dagegen die Beziehung zu dir selbst und zu anderen: Ein unauthentisches JA kann Unsicherheit oder im schlimmsten Fall Misstrauen beim Gegenüber auslösen – und verhindert, dass ihr euch wirklich kennen- und einschätzen lernt.
Dein Nein wird nicht akzeptiert?
Auch das kann passieren: Du hast ein ehrliches NEIN ausge-sprochen und deine Bedürfnisse klar benannt – doch dein Gegenüber akzeptiert dies nicht, ignoriert es, zieht es ins Lächerliche oder wertet es ab. Wie in Teil I erwähnt, versuchen wir oft (und meist unbewusst), unsere eigenen Bedürfnisse durch andere erfüllt zu bekommen. Wahrscheinlich ist das auch hier der Fall: Dein Gegenüber erkennt nicht an, dass du in dieser Situation seine bzw. ihre Bedürfnisse nicht erfüllen möchtest – oder kannst.
Jetzt beginnt die eigentliche Beziehungsarbeit: Ihr könnt ein Gespräch darüber führen, welche (vielleicht sehr unterschiedlichen) Bedürfnisse gerade aktiv sind – und ob sich darunter nicht auch gemeinsame, essenzielle Bedürfnisse zeigen. Daraus können sich neue Lösungsansätze entwickeln.
Ein hilfreicher Ansatz dafür ist die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg. Sie bietet einen strukturierten Rahmen, um Gefühle und Bedürfnisse klar, ehrlich und gleichzeitig wert-schätzend auszudrücken und betont die Eigenverantwortung für die eigenen Bedürfnisse.
Fazit
Es kann hilfreich sein, einmal darüber nachzudenken, ob wir uns selbst und auch unseren Mitmenschen wirklich immer gut damit tun, “JA” zu sagen, obwohl innerlich alles in uns “NEIN” ruft – auch, wenn vermeintlich eine positive Absicht damit verfolgt wird.
Tiefe Verbindungen beruhen auf Verständnis und Achtsamkeit im Umgang miteinander. So bedarf es nicht nur Mut, die eigenen Bedürfnisse bzw. ein NEIN auszusprechen, sondern auch jeder Menge Aufgeschlossenheit, ein NEIN zu hören und zu akzeptieren.
Ziel sollte es sein, Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen und am gegenseitigen Verständnis der (andersartigen) Bedürfnisse zu arbeiten, um Sicherheit und Vertrauen in der Beziehung zu erfahren. Und dazu gehört manchmal eben auch ein NEIN.