
Gesellschaftliche Entwicklung
Weshalb Künstlichkeit so attraktiv für uns ist – und so gefährlich für uns werden kann
Mit rund 626.200 ästhetisch-plastischen Eingriffen haben wir im Jahr 2024 ein Rekordhoch der vergangenen 15 Jahre in Deutschland erreicht. Von 2023 zu 2024 stieg die Anzahl der Eingriffe um 35,2%, nachdem die Anzahl der Eingriffe in den vorherigen 10 Jahren im Durchschnitt um ~6,5% pro Jahr stieg. 85% der Patienten in 2024 waren Frauen.¹
Doch nicht nur an/in unseren Körpern hält die Künstlichkeit einen rasanten Einzug, sondern auch in unserem (Lebens-)Umfeld: Die fortschreitende Digitalisierung ermöglicht in vielen Lebensbereichen Services von Computern und Robotern, wir kreieren Avatare nach unserem (idealen) Vorbild und der Anteil natürlicher Materialien (Baumwolle etc.) in Kleidung (vor allem in der “Fast Fashion”) sinkt stetig.
Zudem beobachte ich, dass auch das Verhalten in unserer Gesellschaft teilweise künstlicher (und auch affektierter) wird – die Gestik und Mimik mancher Influencer erinnert zunehmend an die bekannter Modepuppen.
Weshalb ist Künstlichkeit so attraktiv für uns?
Unsere Empfänglichkeit für sowie die Inanspruchnahme von Künstlichkeit lassen sich auf verschiedene Einflussfaktoren zurückführen, deren Gewichtung individuell variiert. So können wir uns etwa aufgrund unserer natürlichen Neugier mit ihr beschäftigen oder wir nutzen sie zur Erleichterung unseres Alltags.
Problematisch wird es, wenn wir Künstlichkeit in übermäßiger Weise zur Bewältigung, Vermeidung oder Maskierung innerer Konflikte und Ängste heranziehen. Dann verliert sie ihre Rolle als Ressource zur gesunden Lebensgestaltung und kann stattdessen dysfunktionale psychische Prozesse verstärken und die Entwicklung eines authentischen Selbstbehindern.
Die folgenden (aktuellen) Gegebenheiten können u.a. die psychische Anfälligkeit für künstliche Ersatzlösungen erhöhen:
Frühkindliche Sozialisation
Hier sind zum einen soziokulturelle Einflüsse zu betrachten: Inwiefern fördern bspw. der Erziehungsstil, die Medien oder die Kultur die Attraktivität von Künstlichkeit?
Vor allem junge Mädchen werden heute mehr denn je mit den Idealen der Schönheitsindustrie konfrontiert, sei es bspw. durch Spielwaren oder die TV- und Print-Medien. So werden zwar nicht mehr unbedingt die Rollenklischees, dafür aber nach wie vor die Schönheits- und Verhaltensklischees, bedient. Hinzu kommt eine zunehmende “Beschallung” mit unnatürlichen Farben, Gerüchen und Textilien. Die Konditionierung oder auch Manipulation von Bedürfnissen wird in der Jugend und Adoleszenz von den (sozialen) Medien fortgeführt. Erlernte Bedürfnisse können so von den intrinsischen Bedürfnissen nur noch schwer bis gar nicht mehr unterschieden werden.
Ein anderer Risikofaktor ist unsichere Bindung: Wenn Kinder keine sichere Bindung zu ihren Eltern erleben, kann das später zu einem starken Wunsch nach Perfektion und Kontrolle führen. Künstlichkeit – etwa durch äußere Anpassung bzw. ein „glattes“, gesellschaftlich anerkanntes Auftreten und Aussehen – hilft dabei, diesen inneren Druck zu bewältigen. Zugleich fungiert Künstlichkeit als psychischer Schutzmechanismus: Makel, die früher als Grund für fehlende Liebe empfunden wurden, werden eliminiert bzw. versteckt. Individualität und Innenwelt werden aus Angst vor erneuter Ablehnung verborgen. Der Wunsch nach Makellosigkeit ist dann ein stiller Ruf nach Anerkennung und echter Nähe.
Angst vor Endlichkeit
Das größte menschliche Streben ist das Streben nach Lebenserhalt, deshalb gehört die Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit nicht unbedingt zu unseren Lieblingsthemen.
Und so greifen wir auf viele Strategien zurück, um die Auseinandersetzung zu vermeiden bzw. uns davon abzulenken oder die Zeichen der Endlichkeit zu kaschieren.
Künstlichkeit ist ein Produkt des Menschen, das macht sie – im Gegensatz zur Natur – berechen- und kontrollierbar.
Weitere, aktuelle Ursachen
Generell fördern unerfüllte existenzielle Bedürfnisse wie Sicherheit, Nähe, Stabilität oder Kontrolle die Attraktivität von Künstlichkeit und die Empfänglichkeit für das zugehörige Marketing bei Betroffenen. Angesichts der teils angstschürenden Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaft derzeit konfrontiert ist, überrascht es kaum, dass u.a. ästhetisch-plastische Eingriffe zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Wenn die nötigen Kompetenzen fehlen, um ins Handeln zu kommen und damit existenzielle Bedürfnisse zu erfüllen, erscheint es naheliegend, Befriedigung durch künstliche Produkte zu suchen. Allerdings empfinde ich diese Strategie als problematisch, da dadurch nicht die zugrunde liegende Ursache verändert wird
Weshalb kann Künstlichkeit gefährlich für uns werden?
Daraus gehen folgende Schattenseiten hervor:
Quellen
¹www.de.statista.com/statistik/daten/studie/1552113/umfrage/anzahl-an-schoenheitsoperationen-in-deutschland/ (abgerufen am 09.09.2025)
²www.dgppn.de/_Resources/Persistent/3067cbcf50e837c89e2e9307cecea8cc901f6da8/DGPPN_Factsheet_Kennzahlen.pdf (abgerufen am 09.09.2025)